Was heute Upcycling ist, nannte man früher Notkleidung – mit dem kleinen Unterschied, dass die Not sich verändert hat. Es besteht kein Materialmangel, so wie nach den zwei Weltkriegen, sondern ein Überschuss. Die Not liegt in den Folgeerscheinungen der herkömmlichen Produktion von Stoffen und Kleidern.
Das Wiederverwerten steht für Karen Jessen, Gründerin des Labels BENU BERLIN, immer im Vordergrund. Sie ist quasi damit groß geworden, dass alte Materialien in viel Handarbeit zu neuem Leben erweckt wurden. Schon ihr Taufkleid wurde aus dem ausgedienten Hochzeitskleid ihrer Mutter genäht. Das war in den 1980er Jahren schon unüblich, denn da begann der Fast-Fashion Markt so richtig die Herzen der Konsumenten zu erobern.
Die Modedesignerin und Schneiderin Karen Jessen interessiert Fast-Fashion nicht. Wie sie Mode und Kleidung macht, ist eine Haltung. Welche Materialien sie verwendet, ebenfalls. Die Modedesignerin lebt und arbeitet in Berlin-Neukölln. Dort fertigt sie in ihrer Remise ihre Kollektionen, mit denen sie in der nachhaltigen Modeszene international Preise abräumt und es nun bis zum Fashion Council Germany geschafft hat. Mit ihren eigenwilligen Stoffkonstruktionen aus alten Fast-Fashion-Jeans und – T-Shirts, fertigt die Designerin unverwechselbare Charakterstücke. Interessant ist, welchen Weg sie dabei geht und was am Ende daraus wird.
Kein Stoff bleibt so, wie er ist.
Als wäre es zu einfach, den Stoff alter, ausgedienter Jeans zu verwenden. Nichts bleibt, wie es ist. K. Jessen nimmt die gesammelten Jeans und T-Shirts in 3 Minuten, manchmal bis auf den einzelnen Webfaden, auseinander. Man könnte fast sagen, sie kehrt den Produktionsweg der Stoffe um, um dann etwas Neues aus dem alten Material zu kreieren. Jedes einzelne Element einer Jeans wird in Boxen nach Schlaufen, Nieten, Knöpfen, Stoffteilen, Taschen und Fäden sortiert. Dann beginnt sie aus ihrem Sortiment ihre Visionen von einem Kleid zu realisieren. Manchmal benötigt sie dreihundert Stunden für ein Teil.
Stofffkreation von Karen Jessen für die Kollektion „Indigo Child“ SS 2017 Foto: Suzana Holtgrave
Neue Stoffballen gibt es nicht. Es gibt nur eine Kleiderstange mit alten Jeans und deren gelebtem Charakter, dem real Used-Look, aus dem das neue Gewebe erst einmal hergestellt wird. Dabei ist die 32 jährige absolut kreativ. Grenzen scheint es für die hochgewachsene blonde Frau mit langen Rasterlocken nicht zu geben. Sie schafft aus allem ein Stück Stoff. Sei es gewebt, verzwirnt, Patchwork, ausgefranst, verknotet oder gedreht. Es gibt tausend Möglichkeiten, Texturen neu zu erfinden und aus einem Faden, Leder oder einem Stückchen Stoff einen typischen Charakterstoff á la Karen Jessen zu gestalten.
Bausteinsystem für einen Stoff
Fertigt Jessen einen Stoff aus immer den gleichen Elementen, nennt sie diese Elemente Legobausteine, die sie an einem Leitfaden zusammenfügt. Dabei ranken sich die Bausteine am Körper entlang, schmiegen sich an und brechen als organisches Element in die Dreidimensionalität aus. BENU BERLIN Linienführungen sind fast immer organisch, bewegt und haben nichts mit dem so gehypten gradlinigen Berliner Purismus zu tun.
Streetstyle oder wearable art
BENU BERLIN steht für Streetstyle, obwohl K. Jessens Kleider alles andere als das sind. Tragbare Kunst? Oder vielleicht auch mal Couture? Die Materialien machen die Entwürfe eher zur urbaner Kleidung, doch die Konstruktionen und Schnitte sind weit davon entfernt. Sie sind extravagant, opulent und überaus grenzüberschreitend.
BENU BERLIN Texturen sind speziell
Die Denimspitze ist aus Abfallfäden von Jeans, ihre Pelzkrägen oder Pelerinen aus zerlegten T-Shirts. Wenn K. Jessen mit Leder arbeitet, entsteht auch hier eine neue Textur, die mit der Ursprungsoberfläche wenig zu tun hat. Auch hier schlängelt sich die gekonnte Schnittechnikerin an den Kurven des Körpers entlang. Zipper und Nieten halten die Figur betonten Teile aus Altleder. Die Oberflächen gleichen immer einem Relief, dass sich in die Tiefe ausdehnt.
Das Handwerk ist ihre Leidenschaft
Karen Jessen bleibt konsequent bei ihren Wurzeln. Sie lernte von Ihrem Vater die Seemannsknoten, von ihrer Mutter das Häkeln, Stricken, Zwirnen und Makramee. Sie hat sich immer schon handwerklich betätigt und es ist in ihrer heutigen Arbeit gar nicht wegzudenken. Sie braucht den Kampf mit ihren schweren Kleidern an der Nähmaschine, sie muss es fühlen und spüren. Wenn die Designerin davon erzählt, wie sie die Polsternähmaschinen von der Wand wegwuchten muss, um die Fadenmassen unter die Nadel zu bekommen, hat man eine Vorstellung davon, wie aufwändig ein BENU BERLIN Kleid ist.
Zu den Beschreibungen ihrer Geschichten, so nennt sie ihre Kollektionen, nennt sie immer die Arbeitsstunden, die Anzahl von verwendeten Hosen, T-Shirts, Garn und anderer Materialien. Diese Art von Transparenz macht deutlich, was hinter einem Charakterkleid von BENU BERLIN steckt.
Auf Missstände hinweisen und den Blick für das Schöne öffnen.
Schon die Titel der Kollektionen zeigen, wie ernst Karen Jessen es mit der Mode meint. Das ist fast poetisch, politisch, mahnend ohne den Zeigefinger zu erheben. Wenn „Shaminism“ auf die weißen Wunder der Erde hinweist und die Designerin daraus ein extravagante Schnürenkollektion kreiert oder mit „I Want To Die With My Blue Jeans On“, „Indigo Child“ und „8 Acts Of Rebellion“, eine gesellschaftliche Kritik und eine politische Botschaft vermittelt, dann kommt das aus ihrem tiefsten Selbstverständnis heraus, jeden Teil der Welt, in der wir leben, respektvoll und zukunftsorientiert zu behandeln.
In der Mode geht es eben nicht nur darum, schöne Kleidung zu produzieren. Es ist weit mehr. Das Schöne nutzen wir nur um eine Botschaft zu verbreiten.
Auf der Mercedes Benz Fashion Week Berlin SS 2018 präsentiert BENU Berlin auf dem Greenshowroom und im dem Berliner Modesalon neben ihren Charakterstücken eine sehr feine Jeanskollektion aus neuem Ökodenim.
Text: Susanne Ophelia Beckmann
Fotos: Suzana Holtgrave